Lorenzo spürte die leichte Brise auf seiner Haut, die durch die schmalen Gassen von Taormina strich, während er neben seinem Freund Marco die steilen Treppen hinaufstieg. Sein weißer Stock tastete vorsichtig jede einzelne Stufe ab. Trotzdem verließ er sich auf Marcos helfende Hand, um sicher durch die belebten Straßen zu navigieren. So wie er es bereits seit Wochen tat. Ohne die Unterstützung seines besten Freundes hätte er vermutlich keinen einzigen Schritt mehr vor die Tür gesetzt.
Das unbeschwerte Lachen der Menschen und das Klappern von Geschirr in den zahlreichen kleinen Straßencafés drangen an sein Ohr und erinnerten ihn an die atemberaubende Schönheit seiner Stadt, die vor einigen Jahren seine neue Heimat geworden war. Er erinnerte sich an die lebendigen Farben der blühenden Bougainvilleen, die überall die engen Gassen säumten, und konnte beinahe wieder die von der Sonne goldgelb beleuchteten Steinmauern sehen.
Die Geräusche der Stadt waren für Lorenzo eine vertraute Melodie, die ihn auf der einen Seite tröstete, aber zugleich schmerzlich daran erinnerte, was er verloren hatte. Jedes Lachen, Klirren und Murmeln zeigte ihm vergangene Bilder – wie die unzähligen Nachmittage, die er mit einem Buch in seinem Lieblingscafé verbracht hatte, oder die Abende, die er am Klavier saß, während die Fenster offen standen und seine Musik hinaus in die Stadt schwebte.
Gierig sog er den Duft von frischem Espresso und süßen Cannoli in sich auf, der sich mit dem salzigen Aroma des Meeres vermischte, das zweifellos in der Ferne glitzerte. Selbst ohne sein Augenlicht konnte er die Nähe des Wassers spüren. Wie sehr hatte er diesen Anblick immer geliebt, wenn er auf dem Hügel am Rand des antiken Theaters stand und auf das azurblaue Meer geschaut hatte, bis zum Horizont, wo sich der Himmel mit dem Wasser zu vereinen schien.
Seine Finger, die so oft suchend durch die Leere tasteten, fanden Trost in einer vertrauten Geste. Er spielte unbewusst mit dem schlichten, aber bedeutungsvollen Ring an seiner Hand. Sein Onkel, bei dem Lorenzo so viele Sommer seiner Kindheit verbracht hatte, hatte ihn einst getragen. Lorenzo erinnerte sich an die warmen Nachmittage in der Werkstatt seines Onkels, den Geruch von Holz und Öl in der Luft, während er staunend zusah, wie der Mann mit ruhiger Hand an einem alten Klavier arbeitete oder Geschichten von früher erzählte. Jetzt, da er den Ring an seinem Finger spürte, hatte er das Gefühl, als würde sein Onkel ihm durch die Zeiten hindurch Mut zusprechen, ihn daran erinnern, dass er stark genug war, die Dunkelheit in sich zu überwinden.
»Wir sind fast da, Lorenzo«, sagte Marco mit einer Spur von Aufregung in der Stimme. »Du wirst es lieben, versprochen.«
Seit Wochen war Marco eine wichtige Stütze für Lorenzo und hatte immer wieder einen Weg gefunden, ihn aufzubauen, selbst wenn die Welt um ihn herum in Dunkelheit getaucht war.
Lorenzo lächelte vage, obwohl ein nervöses Kribbeln durch seinen Körper jagte. Er hatte keine Ahnung, wohin Marco ihn entführte, aber er spürte, dass etwas Besonderes bevorstand.
Seit dem Unfall vor einem Jahr hatte er sich nur selten auf solche Ausflüge eingelassen. Damals hatte sich sein Leben dramatisch verändert und er hatte enorme Schwierigkeiten, sich an diese neue Realität anzupassen. Jeden Tag musste er sich von neuem in einer Welt zurechtfinden, die ihm fremd erschien. Selbst die einfachsten Aufgaben, die er früher mit einer Selbstverständlichkeit erledigt hatte, waren zu beinahe unüberwindbaren Hindernissen geworden. Auch heute noch passierte es ihm, dass er sich nicht merken konnte, wohin er einen Gegenstand gelegt hatte und die Suche danach wurde zu einem Akt der Geduld und ließ zeitgleich sein Frustrationslevel in die Höhe schnellen.
Während der ersten Monate nach dem Unfall hatte allein der Gedanke an die Außenwelt Lorenzo in einen Zustand der Angst und Unsicherheit versetzt. Er hatte es vermieden, das Haus zu verlassen und sich in den sicheren Wänden seines Zuhauses verkrochen.
Auch wenn er inzwischen gelernt hatte, mithilfe verschiedener Hilfsmittel sich im Alltag einigermaßen zurechtzufinden, haderte er mit seinem Schicksal und zog die schmerzliche Einsamkeit vor. Die Tatsache, dass er in einer Welt ohne Licht und Farbe gefangen war, drückte mit einer überwältigenden Schwere auf seine Seele und hatte ihm alles genommen, was je für ihn von Bedeutung gewesen war.
Als sie die Spitze der Treppe erreichten, spürte Lorenzo, wie sein Freund auf die sich öffnende Aussicht reagierte. Er vernahm den Klang der Wellen, die sanft an die Küste brandeten, und rief sich die passenden Bilder in seine Erinnerung. Das weite Meer, das in der Ferne glitzerte, und den majestätischen Ätna, der am Horizont aufragte. Lorenzo blieb stehen und atmete tief ein, während er die Atmosphäre der Szenerie in sich aufnahm. Trotz seiner Blindheit fühlte er die erhabene Präsenz des Vulkans und genoss für einen Moment die wärmenden Sonnenstrahlen in seinem Gesicht.
»Es ist wunderschön, nicht wahr?«, bemerkte Marco und legte eine Hand auf Lorenzos Schulter. »Aber das Beste kommt noch. Bist du bereit?«
»Du machst es ja wirklich spannend. Aber da ich weiß, dass wir uns im teatro greco befinden, vermute ich, dass wir zu einem Konzert gehen.«
Marco lachte leise. »Du bist wirklich ein kluger Fuchs, Lorenzo. Aber ja, du hast recht. Wir werden zu einem Konzert gehen. Aber dieses Mal wird es etwas ganz Besonderes sein.«
Lorenzo hob eine Augenbraue. »Etwas Besonderes? Was meinst du damit? Wir haben schon öfter Konzerte in dieser Location besucht.«
Das antike Theater von Taormina thronte würdevoll auf einem Hügel und bot einen atemberaubenden Blick auf das Mittelmeer. Es galt als eine der schönsten Bühnen der Welt. Unter freiem Sternenhimmel hier ein Konzert mitzuerleben, war definitiv ein einmaliges Erlebnis.
»Nun, lass es mich so sagen: Die Künstlerin, die heute Abend auftreten wird, ist nicht nur eine begabte Musikerin, sondern auch eine renommierte Musiktherapeutin.«
Lorenzo war überrascht. »Eine Musiktherapeutin? Du sprichst nicht etwa von Alessia Pagano?«
Marco klopfte ihm auf die Schulter. »Das wirst du gleich herausfinden. Aber sei darauf vorbereitet, Lorenzo. Dieser Abend könnte dein Leben verändern.«
Lorenzo lauschte den Worten seines Freundes und erinnerte sich an die Geschichten, die er über Alessia gehört hatte. Ihr Ruf als außergewöhnliche Musikerin und ihre einzigartige Herangehensweise an die Musiktherapie hatten ihn neugierig gemacht. Er war gespannt darauf, sie endlich live zu erleben und zu erfahren, ob ihre Musik wirklich die Kraft hatte, Leben zu verändern.
Berührt von der Idee seines Freundes, ihn auf dieses Konzert mitzunehmen, fühlte Lorenzo eine Mischung aus Dankbarkeit und Skepsis. Seit seiner Erblindung hatte er keinen einzigen Ton mehr auf dem Klavier gespielt. Die Blockade war nicht nur physisch, sondern gerade auch emotional. Marco wusste genau, wie sehr ihm die Musik fehlte, und dass dies vielleicht seine einzige Chance war, die verlorene Verbindung wiederzufinden. Lorenzos Herz klopfte schneller bei dem Gedanken, dass dieser Abend tatsächlich einen Wendepunkt darstellen könnte. Die Unterstützung seines besten Freundes in dieser schweren Zeit bedeutete ihm mehr, als er in Worte fassen konnte.
Lorenzo nahm einen tiefen Atemzug, spürte, wie die Luft seine Lungen füllte. »Wow, Marco. Das bedeutet mir mehr, als du dir vorstellen kannst«, sagte er leise. »Ich weiß zwar nicht, ob ich schon bereit dazu bin, aber ich bin dir sehr dankbar, für diese Möglichkeit.«
Marco legte eine Hand auf Lorenzos Schulter, bevor er ihn behutsam die Stufen des antiken Theaters hinunterführte. Der Boden unter ihnen bestand aus alten Steinen, die von den Schritten zahlloser Besucher geglättet und poliert worden waren. Das Rauschen des Meeres im Hintergrund mischte sich mit einem sanften Windhauch, der die Theatergäste warm umspielte.
Lorenzo spürte, wie sich die Atmosphäre allmählich veränderte, als sie tiefer in das Theater eindrangen. Die Geräusche der Menschenmenge wurden lauter, das Murmeln der Stimmen und das Rascheln der Kleidung mischten sich mit dem gedämpften Klang von Schritten auf dem alten Steinboden. Die antiken Mauern des Bauwerks schienen regelrecht die Energie der erwartungsvollen Menge aufzusaugen und gleichzeitig zu verstärken.
Der Geruch nach altem Gestein umhüllte Lorenzo, während er sich weiter durch die Sitzreihen tastete. Marco stoppte schließlich und half Lorenzo, sich auf seinem Platz niederzulassen. Lorenzo lehnte sich leicht zurück gegen die kühlen Steine, um die Atmosphäre des antiken Theaters auf sich wirken zu lassen. Die Dunkelheit, in der er gefangen war, umgab ihn, aber die Vorfreude und Aufregung pulsierten in der Luft wie ein lebendiges Wesen.
Gemeinsam warteten sie gespannt darauf, dass das Konzert begann, und Lorenzo konnte kaum erwarten, die Musik von Alessia Pagano zu hören, von der er so viel gehört hatte. Er versuchte, sich ihr Aussehen in Erinnerung zu rufen. Einige Zeit vor dem Unfall, bei dem er sein Augenlicht verloren hatte, hatte er flüchtig ein Foto von ihr in einem Zeitungsartikel über eines ihrer Konzerte gesehen. Das Bild war damals kaum von Bedeutung gewesen, doch jetzt klammerte er sich an diese vage Erinnerung, um sich inmitten der erdrückenden Dunkelheit nicht ganz so ausgegrenzt zu fühlen.
Plötzlich verstummten die Gespräche, und eine gespannte Stille legte sich über das Theater. Lorenzo spürte, wie sich die Aufmerksamkeit der Menge auf die Bühne richtete. Dann, ganz leise, erklangen die ersten Töne einer Geige. Sie waren zart, fast flüsternd, doch sie schienen direkt zu Lorenzo zu sprechen. Jeder Ton klang klar und rein, schwebte durch die Luft wie ein unsichtbares Band. Die Melodie entfaltete sich langsam, wuchs an Intensität und Emotionen. Lorenzo konnte die Schwingungen der Saiten in seiner Seele spüren, als ob die Musik ihn sanft berührte und ihn aus der beklemmenden Finsternis in ein Meer aus Klang und Licht zog. Jede einzelne gespielte Note erzählte eine Geschichte über Schmerzen, Hoffnung und überwältigender Schönheit, die tief in ihm widerhallte.
[…]